Neujahr

Der Mensch gerät ab und zu in zwei Grunderlebnisse seines Daseins. Das eine Erlebnis hebt ihn in alle Höhen und stürzt ihn in alle Tiefen, derer er fähig ist. Das fühlt sich der Mensch als der Herr, dem alles gelingt, dem sich die Welt beugt, der er alle ihre Räume abtrotzt und alle Kräfte abzwingt; da fühlt sich der Mensch sich als der Herr, dem auch die inneren Räume sich öffnen bis hinein in die schweigende Glut des Herrgotts, auch dahinein vermag der Mensch emporgehoben werden. Und dann wieder liegt der Mensch im Kosmos herum wie ein aus dem Nest gefallener Vogel allen Winden, allen Stürmen preisgegeben einfach nackt und zitternd allem hingehalten, was ihn anrühren mag. Und zwischen diesem Auf und Nieder geschieht unser Leben.

Und der Mensch, der spürt und der sieht und der innerlich abwägt und prüft, merkt, er ist in ein großes Thema einbezogen, er ist hineingestellt in das, was er Geschichte nennen mag. Und er merkt, diese Geschichte, die entlässt immer wieder neue Stunden aus ihrer dunklen Zukunft und spielt neue Variationen und gibt dem einen eine Last auf und dem anderen eine Lust. Und das ist dann der tiefere Sinn dessen, was wir Zeit nennen, dass das Leben einbezogen ist in ein Werden, in ein Geschehen, in ein Vergehen, das ein Wachsen, ein Reifen ein inneres Geschehen sein soll. Und die Entscheidungen im geistigen Raum, die sind überhaupt nur zu tragen vom Menschen selbst, dass ein Mensch seine eigene Existenz bis ins letzte Glühen des Geistes und den letzten Schlag des Herzens hineinwirft für das, was er wirklich anerkennt und bekennt und wofür er steht.

(Aus: Alfred Delp, in Freiheit und in Ketten)

Wir Karmelitinnen wünschen Ihnen allen ein gesegnetes Neues Jahr 2021 und den Mut, die Herausforderungen des Alltags zu bestehen!